Die Auswirkungen der Neurowissenschaften auf UX Design

Veröffentlicht am 01. July 2020

forwerts Team

Beim Erstellen einer Benutzeroberfläche für eine neue App oder Unternehmenswebsite kommen Webdesigner, Digitalstrategen und Entwickler zum Einsatz, die häufig unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen haben, wie das User Experience-Design denn nun am besten aussehen soll. Diese unterschiedlichen Meinungen können natürlich miteinander kollidieren, jedoch geht es eher darum, mit den verschiedenen Perspektiven und Standpunkten zu experimentieren. Schließlich soll das endgültige Design eine Vielzahl individueller Nutzer ansprechen.

“People’s behavior makes sense if you think about it in terms of their goals, needs, and motives.” – Thomas Mann

Wir sind es gewohnt, für die Benutzer zu entwickeln sowie Annahmen über deren Bedürfnisse und Ziele bestmöglich zu treffen. Und da kein Nutzer zu 100% dem anderen gleicht, bedeutet dies testen, testen und nochmals testen. Von der Neurowissenschaft bis zur UX können wir anhand der Forschung verstehen, wie wir in Bezug auf eine Aufgabe arbeiten. Was in den Labors auf molekularer Ebene mit funktioneller Magnetresonanztomographie untersucht wird, untersuchen wir in der UX in seiner Verhaltens- und Denkkomplexität mit Benutzertests, Interviews und Beobachtungen.

Trotzdem wird man natürlich nie allumfassendes Feedback erlangen, welches wirklich jeden möglichen Nutzer miteinschließt. Deshalb bietet es sich an, verschiedene Disziplinen mit in den Entwicklungsprozess einfließen zu lassen, die einen Blick über den Tellerrand hinaus gewähren und zu einem höheren Nutzerverständnis führen. Ein kompetenter UX-Designer sollte in diesem Zusammenhang ein Allrounder sein — Ein Forscher, Psychologe, Kommunikationsspezialist und Analyst in einem. Geschult im Umgang mit einer Fülle an Werkzeugen sowie Methodiken, die ihm als fundierte wissenschaftliche Grundlage dienen, und vor allem ausgestattet mit einer großen Empathiefähigkeit, die es ihm erlaubt, sich mit einer nicht wertenden Haltung in die Lage des anderen zu versetzen.

Die Disziplin der Neurowissenschaften beschäftigt sich mit der Funktionsweise des Gehirns und wodurch es beeinflusst werden kann. Im UX Kontext wird hier auch häufig vom recht jungen Wissenschaftszweig der Kognitionswissenschaften gesprochen, der sich ebenfalls mit unserem Denken befasst und einen interdiszipläneren Ansatz zwischen Informatik, Linguistik, Philosophie, Psychologie und eben der Neurowissenschaft verfolgt. Unabhängig davon, ob man nun aber von Neuro UX oder Cognitive UX spricht, geht es um das Studieren unseres Nervensystems sowie um das Verstehen, wie Wahrnehmung, Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Sprache im Menschen funktionieren.

Vor allem der Bereich der Wahrnehmung ist aus dem UX-Design nicht mehr wegzudenken. Heutzutage wissen wir, dass der Mensch nach bekannten, erwartungskonformen Mustern in seiner Umgebung sucht und diese als Orientierungshilfe nutzt. Elemente, die nahe beieinander stehen oder einer gemeinsamen Richtung folgen, werden so als zusammengehörig wahrgenommen. Wenn wir nun die Aufmerksamkeit der Nutzer auf etwas lenken wollen, wie wir es auch aus dem Behavioural Design kennen, brechen wir diese Wahrnehmung schlicht auf.

Vereinfacht gesagt — wenn alle Buttons auf einer Webseite kreisförmig sind, aber einer quadratisch, sticht der quadratische hervor. Wenn die ganze Seite in schlichtem Schwarzweiß gehalten ist, aber ein Element in grelles Rot getaucht wurde, wird unsere Aufmerksamkeit eben auf dieses Element gelenkt. Unser Gehirn prüft sozusagen alles auf eine selbstauferlegte Ordnung und nimmt Abweichungen sofort wahr. Und da unser Gehirn das Erkennen von Mustern nahezu perfektioniert hat, muss dieser Bruch mit der Norm gar nicht so krass wie in den Beispielen sein. Unser Unterbewusstsein nimmt nämlich selbst die kleinsten Abweichungen wahr, wodurch man auf sehr subtile Weise die Aufmerksamkeit der Nutzer auf die wichtigsten Elemente lenken kann bzw. sie motivieren kann, bestimmte Aktionen durchzuführen.

Und auch die verwendete Sprache hat eine Auswirkung auf die Nutzer. So wird z.B. bei einer Produktbeschreibung der Text aufgrund der geringen Aufmerksamkeitsspanne, die uns im Internet heimsucht, eher rudimentär gescannt und die wichtigsten Informationen herausgefiltert. Wenn diese Produktbeschreibung nun eher negative Assoziationen für den Nutzer aufweist, verhält es sich ähnlich wie beim alltäglichen Zeitungslesen: Je negativer das Geschriebene, desto höher die erregte Aufmerksamkeit. Da wir aber keine Information, sondern ein Produkt oder Service an die Nutzer bringen wollen, erschweren wir ihnen hierdurch die Kaufentscheidung. Bei Produktbeschreibungen gilt also: Je positiver die Assoziationen ausfallen, desto eher greifen die Nutzer auch zu.

Es gibt also verschiedene Disziplinen, die uns dabei unterstützen, die Funktionsweise sowie kognitiven Fähigkeiten unseres Gehirns zu verstehen und dieses Wissen in das UX-Design einfließen zu lassen. Doch wie kann die Neurowissenschaft uns allgemein dabei helfen, ein klareres Verständnis für die Bedürfnisse von uns selbst als auch unserer Nutzer zu entwickeln?

Unser Gehirn verarbeitet neue Informationen rasend schnell und beurteilt sozusagen sofort, ob es sich dabei um eine Belohnung oder Bedrohung handelt. Dieser implementierte Bewertungsprozess hat natürlich biologische Hintergründe und läuft weitgehend unbewusst ab. Um dies besser zu verstehen, kommt hier das von David Rock entwickelte SCARF Modell zum Einsatz, welches als zentrales Konzept des Neuroleaderships gilt.

Es beschreibt die elementaren neurobiologischen Bedürfnisse des Menschen und wie deren Erfüllung zu einer höheren Lern- und Kooperationsbereitschaft führt. SCARF steht dabei für die fünf Dimensionen Status, Certainty, Autonomy, Relatedness sowie Fairness, die unser Belohnungs- oder Bedrohungssystem besonders stark aktivieren und somit unsere Erfahrungen weitgehend beeinflusst.

  • Status: Beschreibt den eigenen Status, also die relative Stellung zu anderen Personen im Prozess. Das bedeutet, je anerkannter und somit wichtiger sich der Nutzer während der Interaktion fühlt, desto stärker wird auch sein Belohnungszentrum angesprochen. Ist also z.B. der Inhalt der Anwendung positiv formuliert, das Feedback unterstützend und die Navigation spielerisch möglich, fühlt sich der Nutzer in seinem Status bestärkt.
  • Certainty: Gibt dem Nutzer eine Sicherheit, dass Abläufe eine gewisse Vorhersagbarkeit haben und somit einer klar abschätzbaren Struktur folgen. Wiedererkennbare Muster und eine transparente Kommunikation der User Journey geben dem Nutzer ein Gefühl der Kontrolle und des Zurechtfindens. Vor allem auch im Bereich der Navigation will der Nutzer wissen wo er sich befindet und wie er an sein Ziel gelangt.
  • Autonomy: Hier geht es um die Balance zwischen der Sicherheit und der eigenen Autonomie. Der Nutzer will durch bekanntes Gewässer geführt werden, um sich sicher zu fühlen, jedoch will er auch immer so flexibel sein, dass er selbst die vollständige Kontrolle übernehmen und vom Kurs abweichen kann. Der Nutzer will eigenverantwortlich agieren und selbst entscheiden, wie er mit einer Anwendung interagiert und welche Wege er beschreitet.
  • Relatedness: Der Nutzer will sich verbunden und somit zugehörig zu einer Gruppe fühlen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und das Gefühl der Ausgrenzung aktiviert die gleichen neuronalen Netzwerke wie physicher Schmerz. Kenntnisse im Universal und Inclusive Design helfen hierbei eine gewisse Barrierefreiheit zu schaffen und auch das Darstellen von Nutzerreviews oder einer Kommentarfunktion können dazu führen, dass der Nutzer sich als Teil eines großen Ganzen sieht.
  • Fairness: Das Gefühl der Benachteiligung oder Ungerechtigkeit ist für die meisten von uns eine der schmerzlichsten Empfindungen. Informationen müssen deshalb immer so transparent wie möglich dargestellt werden, sodass sie einem schnellen Vergleich oder einer Überprüfung standhalten können. Hierzu zählt nicht nur der Wahrheitsgehalt der Informationen, sondern auch ein klarer und direkter Austausch mit den Nutzern.

Je mehr Kenntnisse wir über die Funktionsweise unseres Gehirns, unserer Wahrnehmung und der zugrundeliegenden Psychologie in unsere Designprozesse einfließen lassen, desto höher wird unser Verständnis für jedweden Nutzer. Denn egal welche ach so tollen Funktionen ein Produkt oder Service auch hat, am Schluss muss unser biologisch vorprogrammiertes und musterliebendes Gehirn das Angebotene erfassen und verarbeiten können. Die neurologische Forschung bietet hierbei eine Vielzahl von Methoden und Einblicke in unsere kognitiven Fähigkeiten, die dabei helfen können, unseren Horizont zu erweitern und mehrwertige Produkte und Services zu schaffen, welche die Nutzer sowie deren Bedürfnisse ernst nehmen und für ein wahrhaft immersives Erlebnis sorgen. Zusätzlich können die neurowissenschaftlichen Methoden auch dazu genutzt werden, um Erkenntnisse zu gewinnen, die durch gängige Interview- und Testverfahren nicht oder nur schwer erlangt werden können.

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