Calm Technology – Prinzipien einer nicht aufdringlichen Gestaltung

Veröffentlicht am 23. April 2021

Dennis Wollny

In der Typografie gibt es eine Reihe von Richtlinien, die sich recht natürlich entwickelt haben und die sich auf die oftmals unbewusste Wahrnehmung des Lesers beziehen. Es sollten z.B. nicht zu viele Schriftarten genutzt werden, ausreichend Leerräume bestehen und die Schriftgröße so eingesetzt werden, dass es die Lesbarkeit vereinfacht. Schrift sollte schlichtweg das Auge entspannen, den Fokus auf die Inhaltsaufnahme legen und vor allem  – nicht aufdringlich sein!

Dieser Grundsatz wird in der Typografie zwar häufig berücksichtigt, jedoch gibt es immer mehr Bereiche in unserem digitalen Alltag, die davon augenscheinlich abgeschworen haben. Unsere Welt besteht aus unzähligen Informationen, die um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren, und immer mehr Technologie, die unser Leben ständig unterbricht. Waren es vor über 20 Jahren noch Tamagotchis, die Eltern in den Wahnsinn trieben, während ihre Kinder sich rund um die Uhr um ein absurd hilfsbedürftiges virtuelles Küken kümmerten, verfügen wir heutzutage alle über mehrere Devices, die uns mit Notifications und anderweitigen Pop-Ups bombardieren.

Wir alle sollten uns also die Frage stellen, ob diese Interruptive Technology tatsächlich das ist, was nach Jahren der Innovation und des technologischen Fortschritts übrig bleibt, oder ob Technologien nicht doch in erster Linie dafür entwickelt werden, um uns den Alltag zu erleichtern und Zeit zu sparen – ohne Kontrollverlust, ohne uns zu nerven und ohne ununterbrochen unsere Aufmerksamkeit zu verlangen.

Be Calm – Grundlage und Prinzipien von Calm Technology

Im Laufe der 90er, als die Irrungen und Wirrungen einer digitalen Welt mitsamt Smartphones und Social Media  noch nicht abzusehen war, veröffentlichten die Xerox PARC (Palo Alto Research Center)-Mitarbeiter Mark Weiser und John Seely Brown eine Abhandlung namens The Coming Age of Calm Technology. Darin beschrieben sie vor allem aufkommende technologische Trends, wie die weltweite Verbreitung von PCs und des Internets.

Für sie war klar, dass die absehbare Allgegenwärtigkeit von Computern einen neuen Ansatz erfordert, um Technologie in unser Leben zu integrieren. Einen Ansatz namens Calm Technology („Ruhige Technologie“). Hierbei geht es darum, dass das Ziel von Computersystemen allein darin besteht, Sachverhalte zu vereinfachen und nicht neue Sachverhalte zusätzlich zu generieren. Der Fokus muss somit immer auf der Aufgabe liegen und nicht auf der Technologie selbst.

Diesen Grundgedanken hat die User Experience Designerin Amber Case in den vergangenen Jahren aufgenommen und sich zum Ziel gesetzt, Calm Technology wieder in den Fokus zu rücken und als essenziellen Teil einer natürlichen Design-Philosophie zu verstehen, die klar mensch- sowie zweckorientiert ist. Die 8 an die moderne Welt angepassten Grundprinzipien von Calm Technology lauten wie folgt:

 1. Technologie sollte nicht unsere gesamte Aufmerksamkeit fordern, sondern so wenig wie möglich. Sie sollte kommunizieren ohne den Nutzer aus seiner Umgebung zu ziehen oder von der Aufgabe abzuhalten.

2. Technologie sollte informieren und Ruhe schaffen. Sie sollte den Menschen die notwendigen Tools anbieten, um Probleme einfacher zu lösen, und ansonsten den Mensch Mensch sein lassen.

3. Technologie sollte die Peripherie nutzen. Sie sollte sich leicht von der Peripherie unserer Aufmerksamkeit wieder lösen, in den Hintergrund verschwimmen und informieren, ohne dass unsere Aufmerksamkeit überstrapaziert wird.

4. Technologie sollte die besten Eigenschaften der Technologie und die besten Eigenschaften des Menschsein vereinen. Maschinen sollten sich nicht wie Menschen verhalten und umgekehrt sollten Menschen sich nicht wie Maschinen verhalten. Der Mensch steht beim Design immer im Vordergrund.

5. Technologie kann kommunizieren, muss aber nicht sprechen können. Sprachausgabe ist nicht immer notwendig. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Technologie kommunizieren kann, ohne vermenschlicht zu werden.

6. Technologie sollte selbst dann funktionieren, wenn sie versagt. Bei möglichen Fehlern darf sie nicht komplett zusammenbrechen. Die Grundfunktionen müssen immer nutzbar bleiben.

7. Das richtige Maß an Technologie ist das Minimum, das es braucht, um ein Problem zu lösen. Technologie muss in erster Linie das Feature haben, mit dem ein Problem gelöst werden kann. Nicht mehr und nicht weniger.

8. Technologie sollte soziale Normen respektieren. Bei neuen Features sollte immer hinterfragt werden, ob sie gegen soziale Normen verstoßen. Und sie sollten auch immer langsam eingeführt werden, damit die Benutzer auch die notwendige Zeit haben, um sich an die Veränderungen zu gewöhnen.

Calm Technology im Alltag – Mehr Zeit für sich selbst

Der Fokus auf ein ruhiges sowie funktionelles Design bei Produkten und Services ist dabei auch abseits von computerbasierten Systemen zu finden - und zwar nicht erst seit gestern. So wird häufig der bereits 1933 von Alfonso Bialetti entworfene Moka Express als ein perfektes Beispiel für Design im Sinne von Calm Technology genannt. Der Espressokocher, dessen Absatzzahlen jährlich im Millionenbereich liegen, wird schlicht mit Wasser sowie gemahlenem Kaffee befüllt und auf die Herdplatte gestellt. Solange der Kaffee nun kocht, kann man sich mit anderen Dingen beschäftigen bis die Kaffeemaschine ein einfaches, aber sehr effektives Benachrichtigungssystem nutzt: Während der Kaffee seinen Weg in die Kanne bahnt, entsteht ein unverkennbares Gurgeln, welches als Signal gilt, dass der Kaffee gleich fertig ist.

Und auch die großen Tech-Firmen des Silicon Valley haben in den vergangenen Jahren Features entwickelt, um den Nutzern eine gewisse Form der Selbst- und Zeitkontrolle zurückzugeben, die vor allem durch unscheinbare sowie täuschende Taktiken im Social Media-Bereich verloren gegangen ist. Apple-Nutzer können z.B. mit der Funktion Screen Time (Bildschirmzeit) präzise Angaben dazu erhalten, wie viel Zeit man mit bestimmten Apps, Websites oder anderen Aktivitäten verbracht hat. Diese Informationen erlauben es den Nutzern, Zeitlimits festzulegen und selbst zu evaluieren, ob sie nicht vielleicht etwas zu sehr an ihrem Bildschirm hängen.

Google schlug mit dem Launch namens Digital Wellbeing in die gleiche Kerbe, welches u.a. mit Sätzen wie ‚Abschalten, wann du möchtest‘ beworben wird. Auch hier können die Nutzer einsehen, wie häufig sie bestimmte Apps nutzen, wie viele Benachrichtigungen sie erhalten und wie oft sie auf den Bildschirm schauen. Für viele gelten beide Tools zumindest als eine Art des Eingeständnisses beider Tech-Giganten, die nur allzu gut wissen, dass die meisten ihrer Tools den Nutzern mehr Zeit rauben als ihnen dieses wichtigste aller Güter zurückzugeben.

Calm Technology im UX-Design – Nutzer- und lösungsorientiert

Calm Technology ist in erster Linie als ein Versprechen zu verstehen; dass Technologie den Menschen unaufdringlich als stiller Begleiter unterstützt. Produkte und Services sollen Probleme lösen und uns den Alltag erleichtern – Nicht mehr und nicht weniger. Deshalb spielen die Prinzipien von Calm Technology auch bei uns als UX-Experten eine gewichtige Rolle und helfen uns dabei, für Nutzer zu entwickeln.

“A good tool is invisible. By invisible, we mean that the tool does not intrude on your consciousness. You focus on your task, not on the Tool“ – Mark Weiser, Xerox PARC 1993

Ein optimales Nutzererlebnis kann schließlich nur dann geschaffen werden, wenn die Tools in den Hintergrund rücken und deren Verwendung sowie die Kontrolle darüber in den Händen der User liegt. Es gilt deshalb dieses Ur-Versprechen von Technologie zu wahren und wieder das Bewusstsein für eine nicht aufdringliche Gestaltung bei Entwicklern sowie Nutzern zu schärfen. Der Fokus eines Tools muss dabei immer auf der zu erledigenden Aufgabe liegen und nicht auf dem Tool selbst.

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