Digital Human Twin – Mein Doppelgänger im virtuellen Raum

Veröffentlicht am 01. April 2021

Alexander Livigni

Wie weit geht der Einsatz digitaler Zwillinge? Und vor allem - Inwiefern kommen wir bereits einem Digital Human Twin nahe?

In den vergangenen Jahren haben immer mehr Unternehmen aus verschiedensten Branchen die Vorteile von Digital Twins erkannt. Denn dank dem Zusammenspiel aus Internet of Things (IoT), Big Data und Künstlicher Intelligenz (KI) liefern diese digitalen Doppelgänger eines Prozesses, Produkts oder Service nicht nur Erkenntnisse über vergangene sowie aktuelle Zustandsdaten des realen Gegenstückes, sondern dienen auch dazu, zukünftiges Verhalten vorherzusagen.

Grenzenlose Anwendungsbereiche dank IoT

Ein Digital Twin ist ein computergestütztes Modell eines materiellen oder immateriellen Objektes bzw. Systems, welches alle Informationen seines physischen Konterparts beinhaltet und dank Echtzeitdaten den gesamten Produktlebenszyklus konstant abbildet. Der Begriff sowie das grundlegende Konzept wurden erstmals 2002 von Michael Grieves im Rahmen seiner Forschung zum Product Lifecycle Management (PLM) vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt war seine Überlegung allerdings nicht mehr als eine visionäre Idee, deren Umsetzung durch die damaligen technologischen Bedingungen noch in den Sternen stand.

Der technologische Fortschritt in Sachen Big Data, KI sowie Machine Learning nahm in den vergangen Jahren jedoch so an Fahrt auf, dass Grieves‘ Vision nicht nur umsetzbar wurde, sondern (virtuelle) Realität. Denn die Verschmelzung mit IoT, also der Vernetzung und Kommunikation der Systeme untereinander, sorgt dank Sensoren dafür, dass ständig Daten vom realen zum virtuellen Objekt fließen und vice versa, wodurch nicht nur der aktuelle Zustand des realen Zwillings angezeigt, sondern auch die Daten in einen historischen Kontext gesetzt werden können. Damit werden Verhaltensprognosen erst möglich.

Vor allem bei der Produktherstellung in der Fertigungsindustrie, im Automobilsektor bei der Fahrzeugentwicklung und im Produktdesign sind digitalen Zwillinge zum Standard geworden und sind gar nicht mehr wegzudenken, um durch Datenabgleich und Mustererstellung den bisherigen Lebenszyklus besser zu verstehen und sogar Zukunftsprognosen zu treffen. Aber auch in größeren Kontexten funktionieren digitale Zwillinge.

So nutzen Smart Cities wie New York oder Singapur die Technologie, um u.a. das Verkehrssystem zu optimieren oder die Stadtplanung effizienter zu gestalten. In der Landwirtschaft gibt es ebenfalls erste Versuche Sensortechnik zu nutzen, um präzise festzustellen, wo, wann und in welcher Menge z.B. Düngemittel oder Pestizide effektiv zum Einsatz kommen müssen. Die Grenzen hinsichtlich der Größe des Anwendungsgebiets digitaler Zwilling ist auf Grund der immer schneller voranschreitenden digitalen Vernetzung also noch nicht erreicht ist.

Gerade im Gesundheitswesen wird viel Hoffnung in die virtuellen Abbilder gesetzt, um z.B. die Medikamentenwirkung besser zu überwachen und die Therapiesteuerung individueller zu gestalten. Dabei dient logischerweise der Mensch als Modell für Digital Twins. Doch wie gut funktioniert ein digitales Datenkonstrukt eines so komplexen und vielfältigen physischen Konterparts?

Der imperfekte Digital Human Twin

Mit Hilfe von IoT ist es auch ohne Chip unter der Haut einfacher geworden, konstant Daten von Nutzern zu sammeln, und die großen Tech-Firmen bauen schon lange darauf, unsere Wünsche sowie unser Verhalten im virtuellen Raum vorherzusagen.

Die meisten Unternehmen sammeln allerdings in der Regel nur die Daten, die für ihr Produkt oder ihren Service von Relevanz sind. So werden zum Beispiel Geo-Daten genutzt um die Navigation zu verbessern, den öffentlichen Nahverkehr zu erleichtern oder um in Fitness-Apps den Kalorien-Verbrauch zu ermitteln. Von einem digitalen Zwilling, welcher das System Mensch bis ins kleinste Detail abbildet, kann man bei solch einer geringen Datenqualität sicherlich nicht sprechen. Die Nutzer hinterlassen vielmehr einen kleinen Schatten bei jedwedem Unternehmen, welches ihre Daten sammelt.

Bei im wahrsten Sinne verortbaren Geo-Daten reicht dieser minimale Informationsfluss aus, damit wir schneller an unser Ziel kommen oder in unserem Fitness-Vorhaben bestärkt werden. Gehen wir aber eine Stufe weiter - sei es bei Empfehlungs- oder Suchalgorithmen -, merken wir schnell, dass wir uns oftmals gar nicht genau darüber bewusst sein können, wofür welche unserer Informationen verwendet wird und woraus dieser Schatten schlussendlich besteht.

Eine auf Algorithmen basierende KI spuckt uns ungeprüft Ergebnisse aus, die wir oft einfach hinnehmen, weil wir den dahinterstehenden Prozess gar nicht verstehen. Dabei können die Ergebnisse einen großen Einfluss sowohl auf unsere virtuelle Realität als auch auf uns selbst ausüben. Dass hierbei dann neben schlichten Fehl-Kalkulationen auch amoralische Intentionen eine Rolle spielen können, merkt man nicht nur an den fortlaufenden Diskussionen hinsichtlich Datenschutz sowie einer digitalen Ethik, sondern auch an unserem bisherigen Umgang mit Social Media.

Nutzerdaten sind Nutzerdaten

Das Wichtigste im virtuellen Raum ist deshalb natürlich, dass jeder Nutzer über die Kontrolle seiner Daten verfügt - Nicht einzelne Unternehmen, die auf Grundlage unzureichender Informationen schlechte Fotokopien ihrer Nutzer erstellen. Der Mensch sollte selbst entscheiden können, welche Daten er einem Unternehmen zur Verfügung stellt, um deren Service auf sich selbst maßzuschneidern und wahrhaftigen Mehrwert zurückzuerhalten. So könnten einem Nutzer, der z.B. Allergiker ist und bewusst Informationen hierzu freigibt, auf einer digitalen Speisekarte eines Restaurants oder Lieferdienstes Speisen mit Allergenen besonders hervorgehoben werden.

Nur wenn der Nutzer genau weiß, welche Daten zu welchem Zweck verwendet werden, wird er nicht nur in seiner Entscheidungsfindung bestärkt, sondern erhält auch ein besseres Verständnis von dieser digitalen Welt samt ihrer Mechanismen, in der wir alle heutzutage spielen, arbeiten und kommunizieren. Denn kein Unternehmen kann auch nur ansatzweise so viele Daten über einen Nutzer sammeln, wie der Nutzer über sich selbst.

Ein Digital Human Twin kann also nur dann existieren und eine Lebensverbesserung darstellen, wenn der Nutzer über die vollkommene Kontrolle der zu verwendenden Informationen verfügt und sein virtuelles Abbild selbst erstellt. Diese Rückkopplung der Datensouveränität und das vollkommene Miteinbeziehen des Nutzers bringt aus User Experience Sicht ganz neue Möglichkeiten der Nutzerführung mit sich, die wirklich auf den Nutzer zugeschnitten und somit maximal nutzerorientiert sind.

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