Expert Leader und/oder leading Expert — Aufbrechen von Rollenbildern im digitalen Kontext

Veröffentlicht am 23. July 2021

Julian Schwarz

Durch den Eintritt in das digitale Zeitalter scheint sich die Welt schneller und schneller zu drehen. Technologische Errungenschaften sowie deren Einfluss auf unseren Alltag entwickeln sich exponentiell weiter und erfordern ein Umdenken bzw. Neudenken in nahezu allen Lebensbereichen. Vor allem Unternehmen müssen sich mithilfe neuer Geschäftsprozesse und innovativer Lösungen den sich ständig wandelnden Marktanforderungen in Kombination mit wachsenden Kundenbedürfnissen stellen.

Viele scheinen dabei immer noch darauf zu warten, dass alsbald eine universelle Blaupause verteilt wird, in der genauestens aufgezeichnet ist, wie die Herausforderungen der digitalen Transformation gemeistert werden können. Doch die Ära der ‚one size fits all‘-Lösungen ist schon lange vorbei und eine Renaissance scheint ausgeschlossen. Vielmehr befinden sich Unternehmen fortan in einem kontinuierlichen Change-Prozess, in dem alles, von der Arbeitsweise über eingesetzte Technologien bis hin zur Unternehmenskultur, stets hinterfragt und mitgestaltet werden muss.

Aber wer bringt die notwendigen Steine ins Rollen und leitet diese Transformation, wenn doch lauthals eine Abkehr von traditionellen Hierarchien proklamiert wird? Und was bedeutet Führung überhaupt in einer Zeit, in der die Arbeit in Teams mehr und mehr dominiert und viele Experten ihr Dasein ohne Personalverantwortung fristen wollen?

VUCA — Herausforderungen einer neuen Welt

Wenn man die Rahmenbedingungen der Digitalisierung sowie des sich wandelnden Marktumfeldes benennen möchte, trifft man häufig auf das von Warren Bennis und Burt Nanus geschaffene Akronym VUCA, welches für Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit) steht. In ihrem Mitte der 80er Jahre erschienen Buch „Leaders: The Strategies For Taking Charge“ sinnierten die beiden Wirtschaftswissenschaftler über die verschiedenen Herausforderungen sowie externen Einflüsse einer modernen Welt und wie sich diese auf die Rolle einer Führungskraft auswirken. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung stellen sich diese einzelnen Begriffe wie folgt dar:

Volatility: Unser Alltag verändert sich ständig und auch der Markt unterliegt immer extremeren Schwankungen. Neue Technologien wirken sich direkt auf die Kundenbedürfnisse aus, zeitliche Abstände verkürzen sich und frische Mitbewerber setzen mit ihren disruptiven Ideen ganze Marktgesetze außer Kraft. Die dahinter stehenden Mechanismen werden dabei immer intransparenter, wodurch ein kausales Verständnis und somit auch eine langfristige Planbarkeit erschwert wird.

Uncertainty: Die Halbwertszeiten von Prognosen verkürzen sich genauso rapide wie die Produktlebenszyklen. Der große Druck, schnell Veränderungen erkennen und auf sie reagieren zu müssen führt zu einer allgegenwärtigen Unsicherheit. Vor allem für Entscheider wird es immer komplexer eine valide Zukunftsstrategie zu verfolgen, wenn Erfahrungen aus der Vergangenheit kaum noch eine Aussagekraft haben.

Complexity: Veränderungen sind nicht mehr nur auf einzelne Begebenheiten zurückzuführen, sondern sind bestimmt von einer Fülle an Einflussfaktoren, die in gegenseitiger Abhängigkeit stehen. Neben neuen Technologien sowie Mitbewerbern und wachsenden Kundenanforderungen sorgen auch unterschiedliche Regularien in globalisierten Märkten für ein komplexes System, auf welches kaum noch Einfluss genommen werden kann und in dem Entscheidungen nicht mehr klar steuerbar sind.

Ambiguity: Mehr Informationen bedeuten nicht grundsätzlich, dass man ein klareres Zukunftsbild erstellen kann. Informationen können unterschiedlich interpretiert werden und sind in ihrer Bewertung oftmals mehrdeutig, wodurch den Anforderungen an Organisationen und auch Führung heutzutage eine gewisse Widersprüchlichkeit innewohnt. Durch das Wegfallen von etablierten Mechanismen und ‚one size fits all‘-Lösungen wächst auch die Angst vor falschen Entscheidungen, da es keine vorgezeichneten Wege mehr gibt, die eine gewisse Sicherheit aufweisen.

Digitale Kompetenz — Führung in digitalen Zeiten

Heutzutage kontern einige Berater, Unternehmer und Gelehrte, dass die Antwort auf die mehr als nur herausfordernd wirkende VUCA-Welt ein Kunstwort bestehend aus den genau gleichen Buchstaben trägt. Hier setzt sich VUCA aus den Worten Vision, Understanding (Verstehen), Clarity (Klarheit) und Agility (Agilität) zusammen, welche sowohl Anforderungen als auch Lösungen im Umgang mit den VUCA-Problemen beschreiben. Beide Akronyme sind jedoch schlichtweg dazu da, um einen vereinfachten Überblick darüber zu geben, welch massive Veränderungen dieses neue, digitale Zeitalter mit sich bringt.

Um diesen Veränderungen gerecht zu werden, sind auf unternehmerischer Seite natürlich vor allem die Führungskräfte gefragt. Hier wird von allen Seiten eine digitale Kompetenz gefordert, damit Change-Prozesse auch eingeleitet werden können. Doch was versteckt sich überhaupt dahinter?

Kompetenz bezeichnet im Prinzip nichts anderes als die Fähigkeit sich in den unterschiedlichsten Umfeldern, Lebenssituationen und Wissenskomplexen zurechtzufinden und darin eine aktive Rolle zu spielen. Führungskräfte hatten auch in früheren Generationen die Aufgabe strategisch zu planen, Innovation anzutreiben und ihre Mitarbeiter zu motivieren. Einer der wesentlichen Unterschiede der digitalen Welt ist allerdings die inhärente Schnelllebigkeit der Zeit. Dies erfordert von Führungskräften einen viel größeren Einsatz sich ununterbrochen neues Wissen anzueignen und dieses dann auch fortlaufend in Umsetzungsprozesse einfließen zu lassen.

Dieses stetige Erneuern und Erweitern des eigenen Horizonts ist somit ein unabdingbares Mindset, welches durch das gesamte Unternehmen getragen werden muss. Es geht nicht nur darum, dass die Entscheider dem Digitalen offen und mit einer gewissen Neugierde begegnen, sondern dass sie ihre Mitarbeiter von eben diesem positiven Blickwinkel auf eine kontinuierliche Transformation überzeugen. Gleichzeitig stehen wir alle erst am Anfang dieser digitalen Neuzeit, deshalb ist es gerade für Führungskräfte unabdingbar, dass sie sich stets kritisch mit den digitalen Möglichkeiten auseinandersetzen sowie aufkommende Trends und Prozesse ethisch reflektieren.

Es handelt sich demnach nicht in erster Linie um eine Kompetenz, die digital ist, sondern um die Fähigkeiten mit digitalen Sachverhalten und den Herausforderungen der Moderne offen, gestalterisch und praktisch umzugehen. Für Führungskräfte bedeutet dies aber auch, dass sie gar nicht mehr selbst unbedingt als Expert agieren müssen. Nicht nur, weil heute sowieso von Mitarbeitern und Teams eine hohe Selbstorganisation sowie Eigenverantwortlichkeit gefordert wird, sondern auch weil Soft Skills und allen voran emotionale Intelligenz eine moderne Führungskraft auszeichnen sollten. So wie also allgemein beim Umgang mit digitalen Herausforderungen ein offener, reflektierter und kritischer Ansatz gefordert ist, sind Kompetenzen wie Empathie, Selbstwahrnehmung und Selbstregulation Schlüsselfaktoren bei Entscheidern.

Expertenlaufbahn — Führen ohne Personalverantwortung

Die Neuausrichtung und Erweiterung der notwendigen Kompetenzen in Kombination mit flacheren Hierarchien hat aber auch grundlegende Auswirkungen auf die angestrebten Karrierelaufbahnen. War es früher noch üblich, dass ein hierarchischer Aufstieg letztendlich in einer klaren Führungsposition mit Personalverantwortung mündete, wollen nach und nach immer mehr Mitarbeiter im Status des Experten verbleiben.

Dies ist insofern schon mal kein Beinbruch, da Unternehmen nicht erst seit gestern wissen, dass die beste Fachkraft nicht automatisch auch die beste Führungskraft wird. Nicht nur, weil oftmals eben diese gewissen Soft Skills fehlen, sondern weil es schlichtweg schwierig ist, eine flexible Rollendefinition als Führungskraft zu finden, die situativ und je nach Kontext angepasst und variiert werden kann. Die Komplexität der Zeit verhindert einfach, dass es für die Funktionen eines Entscheiders ein klares Script gibt, dem mit Scheuklappen gefolgt werden kann.

Auch deshalb bieten immer mehr Unternehmen mittlerweile, neben der Karriere als Führungskraft, eine Expertenkarriere an. Im Zuge verschiedener Change-Prozesse werden einzelne Rollen meist sowieso umstrukturiert, warum also nicht die Rolle des Experten neu und bis zu Ende denken? Dies erlaubt sowohl, dass Experten im Unternehmen eine höhere Wertschätzung genießen können, indem weitere Aufstiegsstufen (wie z.B. vom Professional zum Senior Expert oder Chefberater) etabliert werden, als auch, dass neben dem erhöhten Fokus auf die Expertisenerweiterung gleichzeitig durchlässige Knotenpunkte geschaffen werden.

So werden Experten nicht unnötig in eine Führungsrolle gedrängt und können sich auf den Ausbau ihrer Fachexpertise konzentrieren. Falls dann durch verschiedene leitende Funktionen in Teilbereichen, wie in Teams oder bei Projekten, der Experte doch auf den Geschmack kommt, in eine Führungsrolle zu schlüpfen, sind die Wege einer Umfirmierung kurz. Dies gilt natürlich auch in umgekehrter Weise. Viele Führungskräfte merken nämlich von sich aus, dass die erweiterten Verantwortungsbereiche doch nichts für sie sind. Da der Rückzug von der Position aber oft als Hinschmeißen bzw. persönliche Niederlage gewertet wird, bleiben Firmen entweder mit einer unzufriedenen, vielleicht sogar überforderten Führungskraft zurück oder sie verlieren einen fähigen Experten nur auf Grundlage einer falschen Rolle. Steht die Expertenlaufbahn jedoch auf Augenhöhe mit der Führungskarriere, ist der Schritt in den Expertenstatus kein Schritt zurück, sondern, wenn man so will, einfach ein Schritt zur Seite.

Dass man als Expert den für viele immer noch normalen Sprung zum Leader nicht vollziehen will, bedeutet also in keinster Weise, dass man deswegen kleiner gehalten wird bzw. schlechtere Aufstiegschancen haben muss. Wie bereits gesagt; ‚one size fits all‘-Lösungen sind schlicht nicht mehr praktikabel. Dies gilt für Räumlichkeiten, für Produkte und Services, für Kunden und eben auch für Arbeitnehmer und -geber.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren