Gamification – Spielerische Motivation
Wer in Stockholm schon mal mit der U-Bahn gefahren ist, wurde auf dem Weg in den Untergrund vielleicht Augen- und Ohrenzeuge einer Installation, die vielen die Wahl zwischen Rolltreppe und normaler Treppe mehr oder minder abnimmt. Die Stufen genannter Treppe wurden nämlich optisch als auch klanglich mit Klaviertasten ersetzt - Ein kleiner Anstoß (Nudge), um die Menschen zu mehr Bewegung aufzumuntern.
Seit der erfolgreichen Inbetriebnahme ist der Verkehr auf den Piano Stairs geradezu explodiert und um zwei Drittel gestiegen. Doch warum sind gerade solche spielerischen Elemente dazu prädestiniert, dass sich Menschen entgegen ihrer vormaligen Präferenzen einfach umentscheiden oder gar umleiten lassen?
Sind die Dinge, wie sie scheinen
Bevor wir uns also näher mit dem titelgebenden Thema Gamification auseinandersetzen, benötigen wir einen kurzen Exkurs in die Wahrnehmungs-Theorie und menschliche Entscheidungsfindung. Denn dem Psychologen J. J. Gibson nach, haben verschiedenste Objekte in unserer Umwelt - wie eben jene Treppe - einen sofort wahrnehmbaren Angebotscharakter, welcher uns direkt alle notwendigen Informationen über die Funktionalität des Objektes und unseren Umgang damit offenbart. Diese Komplementarität von Umwelt und Lebewesen beschrieb Gibson 1977 erstmals mit der Wortneuschöpfung Affordance (Affordanz bzw. Angebot).
Objekte und deren Beschaffenheiten bieten uns also Handlungsoptionen an, die unser Handeln zwar nicht determinieren, aber bestimmte Handlungen bzw. Verhaltensweisen wahrscheinlicher machen. Dies macht Affordance auch zu einem immens wichtigen Faktor bei der Gestaltung von Interfaces. Ein User muss die sich hinter einem Element verborgenen Eigenschaften und Informationen schließlich korrekt identifizieren können, um keinen Bruch in seiner Wahrnehmung zu erleben.
Platt gesagt: Niemand will die Katze im Sack kaufen. Wenn der User davon ausgeht, dass z.B. ein Kuvert das Element zum Öffnen seiner E-Mails darstellt, dann muss diese implizierte Funktion auch erfüllt werden. Von daher stellt nach Don Norman, Professor für Kognitionswissenschaften und Informatik, die Kontinuität innerhalb eines Interfaces, in dem ähnliche Interaktionsmöglichkeiten auch immer ähnlich gestaltet sind, ein wichtiger Faktor dar, um eine mögliche Diskrepanz zwischen tatsächlicher und wahrgenommener Affordance zu vermeiden.
Erwecke den Spieler in dir
Es gibt aber auch Bereiche, in denen absichtlich gegen die Prinzipien der Affordance verstoßen wird und oftmals Elemente mit vollkommen neuen Eigenschaften geboren werden - Willkommen in der Welt der Spiele. Hier werden im wahrsten Sinne neue Welten, Fähigkeiten und Charaktere erschaffen, die mit unserer ursprünglichen, alltäglichen Wahrnehmungsauffassung nur noch wenig zu tun haben. Und doch faszinieren sie uns und motivieren uns, unbekanntes Terrain zu beschreiten.
Denn die Bedürfnisse und Instinkte, die dadurch geweckt werden, sind in uns Menschen von klein auf enthalten. Wir alle werden gerne belohnt oder sehnen uns nach Anerkennung, wenn wir eine Aufgabe lösen. Wir alle wollen gewinnen, wenn wir uns in einem Wettbewerb messen. Wir alle haben Ziele verschiedenster Natur, denen wir Tag für Tag nacheifern. Und wir alle wollen bei jeglicher Unternehmung so viel Spaß wie möglich haben.
Spielehersteller wissen, wie sie diese Instinkte wecken und die damit einhergehenden Bedürfnisse stillen. Warum also nicht eben jene bereits etablierten Mechanismen auf eine spielfremde Umgebung übertragen, um den Spieltrieb des Menschen anzusprechen und ihn in seinem Handeln zu motivieren? Genau hier setzt Gamification an.
„Gamification ist der Prozess, Menschen zu motivieren und ihr Verhalten, die Loyalität und Verhaltensökonomie durch den Aufbau von Spielen zu verändern. Es geht darum, den unterhaltsamen Teil der Spiele aufzugreifen und auf weniger lustige Situationen anzuwenden. Dabei wird dieses Gefühl, dieser Flow auf alles andere übertragen, von der Motivation der Mitarbeiter über Forschungsstudien bis hin zu Marketing-Kampagnen.“
Die Grundlage von Gamification
Wer nun überlegt, welche Techniken bei der Gamification angewendet werden, sollte sich schlicht fragen: Was zeichnet ein gutes Spiel aus? Wahrscheinlich würden dadurch zumindest eine Handvoll Ideen zusammenkommen, die absolut ins Schwarze treffen. Denn egal ob Brett-, Sport- oder Computer-Spiel, jeder ist auf die ein oder andere Weise bereits damit in Kontakt gekommen und wird ein paar grundlegenden Bausteine definieren können. Geht man nach den Videospieldesignern Jesse Schell und Dustin DiTommaso, kann man die wichtigsten Gamification-Techniken wie folgt aufschlüsseln:
1. Die Geschichte: Storytelling ist das A und O, wenn es darum geht, einen Spieler in den Bann zu ziehen. Nichts motiviert mehr, als dem Verlauf einer gut erzählten Geschichte zu folgen und mit Spannung das nächste Abenteuer zu erwarten.
2. Level: Niemand steht gerne im Nirgendwo und eine Geschichte braucht neben einem Startpunkt auch Kontext – ein Ziel. Levels eignen sich hierbei gut als Leitfaden. Erreicht man ein neues Level, wird dies nicht nur anerkannt und belohnt, es zeigt dem Spieler auch an, dass er auf seiner Reise Fortschritte macht.
3. Der Countdown: Wenn die Zeit abläuft, müssen wir handeln – Es steckt schlicht in uns. Somit wird jegliche Form von Frist vom Spieler als Aufforderung aufgefasst. Dabei kann es sich sowohl um das typische „Sie haben noch X Sekunden“ als auch um „Schaffst du heute noch das nächste Level“ handeln.
4. Auszeichnungen: Seien es Abzeichen, Medaillen oder Embleme bzw. Badges – Wenn der Spieler einen neuen Meilenstein erreicht, will er dafür auch eine Trophäe in seine Vitrine stellen. Diese Belohnungen verifizieren nicht nur seinen Erfolg, sie stellen auch einen neu erhaltenen Status dar, der unter Mitstreitern verglichen werden kann.
5. Rankings: Apropos Mitstreiter – Ranglisten sind ein effizientes Mittel, um dem Spieler seine eigene Position in der Welt zu zeigen. Vor allem aber schüren sie den Wettbewerb und das Konkurrenzdenken. Ähnlich wie bei Level will der Spieler auch hier aufsteigen und – natürlich – zu den Besten gehören.
6. Zusätzliche Belohnungen: Neben dem normalen Fortschritt mitsamt der gesammelten Erfolge und Abzeichen, haben sich kleinere Belohnungen wie Sterne, Punkte, Extraleben oder virtuelles Geld als fördernd erwiesen, wenn es um Motivation geht. Selbst dann, wenn diese Zusatz-Belohnungen keinen direkten Effekt auf das Spiel haben, will der geneigte Spieler alles mitnehmen, was auch mitzunehmen ist.
7. Verbesserungen: Man steckt zu Beginn zwar nicht im Niemandsland, jedoch trifft man in Spielen zumeist am Anfang auf viele Beschränkungen. Fähigkeiten, Objekte oder der Zutritt zu verschiedenen Welten werden erst nach und nach freigeschaltet, sodass sich immer mehr Spielmöglichkeiten ergeben und das Spielerlebnis nicht gebremst wird.
8. Fortschrittsbalken: Ein kleiner Balken mit großer Wirkung. Ähnlich wie beim Countdown geht von ihm eine Magie aus, der wir uns nicht entziehen können. Je näher der Spieler an die Vervollständigung kommt, desto mehr wird in ihm der Drang danach geweckt, tatsächlich die 100% zu erreichen.
9. Teamarbeit: Der Mensch ist ein soziales Wesen und gerade beim Sport begegnen wir uns gerne im Team. In Spielen verhält es sich ähnlich. Wenn Gruppen oder auch Stämme gebildet werden können, zeigen sich Spieler oft motivierter ihren eigenen Rang zu verbessern oder gemeinsame Projekte zu verfolgen.
10. Likes & Empfehlungen: Bei der Vergabe von Likes geht es sowohl um die Bestätigung der eigenen Erfolge innerhalb eines Netzwerks als auch darum, andere Mitspieler durch Anerkennung zu belohnen. Ein einfaches Motivationselement, welches vor allem aus den sozialen Medien nicht mehr wegzudenken ist.
11. Auswahl der Spielfigur: Oftmals beginnt der Wettbewerb schon vor dem Spiel, denn wer hat sich nicht schon einmal mit Geschwistern oder Freunden darüber gestritten, wer die begehrteste Spielfigur oder -farbe bekommt. Die Auswahl und Assoziation mit einer Spielfigur sorgt sofort mit spielerischer Leichtigkeit für das intendierte Mindset.
Spaß im Kontext
Bei der Entwicklung digitaler Services und Produkte ist es bei der Gestaltung einer optimalen User Experience essentiell über die Bedürfnisse und Motivationen der Nutzer Bescheid zu wissen. Gamification kann hierbei helfen, die User besser zu identifizieren und zu verstehen. So können z.B. auch geläufige Spielertypen wie der Socializer (Fokus auf Interaktion & Menschen), der Explorer (Fokus auf Interaktion & Umgebung), der Achiever (Fokus auf Aktion & Umgebung) oder der Killer (Fokus auf Aktion & Menschen) evaluiert und deren Motivationen in Personas integriert werden.
Kennt man die Motivationen der User, muss man sich nun fragen, welche Spielmechaniken dabei helfen können, den Nutzer auf seinem Weg durch die Anwendung zu lenken und welche Instrumente man ihm im Verlauf zur Hand gibt, um ihn bei seiner Geschichte für Fortschritte zu belohnen und die ihm zugrundeliegende Motivation herauszukitzeln.
Gamification-Techniken stellen somit ein weiteres Tool dar, mit dem man Nutzerverhalten fördern sowie die Nutzererfahrung angenehmer machen kann. Wie weit diese spielerischen Elemente reichen, richtet sich dabei natürlich immer am Service bzw. Produkt und dem dahinterstehenden Unternehmen aus. Jedoch geht es auch weniger um die schiere Menge oder eben Subtilität der Spielelemente, sondern vielmehr um eine passende Balance, die dem User alle notwendigen Informationen klar aufzeigt, ihn dabei nicht überfordert und, zu guter Letzt – ihm neben der reinen Funktionalität auch eine gewisse spielerische Freude bereitet.