Kontextsensitiver digitaler Raum – Der Kontext macht den Inhalt

Veröffentlicht am 24. January 2020

Matthias Herkle

Als Mensch leben wir in ständiger Interaktion; sei es mit anderen Menschen, unserer Umwelt oder eben mit Maschinen. Dabei verstehen wir uns trotz unzähliger Hilfsmittel selbst am liebsten als Akteur – Immer auf der Suche nach der nächsten positiven, persönlichen Erfahrung. Doch wie sieht die digitale Interaktion von Morgen aus, wenn Maschinen immer mehr in eine proaktive Rolle schlüpfen?

Eine mit Sensoren ausgestattete elektronische Pille, die u.a. pH-Werte oder die Körpertemperatur misst und direkt an den Hausarzt weiterleitet. Mobile Displays, die je nach Umgebung, Zeit und Wetter angepasste Werbung ausspielen. Oder digitale Verkehrssysteme, welche die Kommunikation zwischen Autos und Notfalldiensten erlaubt, sodass präventiv Rettungsgassen gebildet werden können.

All dies hört sich noch wie Science Fiction an. Allerdings sind sowohl Sensorpillen als auch in Echtzeit kommunizierende Fahrzeuge alles andere als eine Vision aus einer entfernten Zukunft. Digitale Pillen, die z.B. die regelmäßige Einnahme eines Medikaments überwachen, haben ihre Markteinführung teils schon hinter sich und auch ein ‚digitaler Rettungsgassen-Assistent’ wird aktuell von Vodafon und Ford in der Praxis getestet.

 

Das Internet der Dinge verwendet Kontext

Diese zunehmende Vernetzung von smarten Gegenständen, die sowohl untereinander als auch nach außen hin kommunizieren können, ist unter dem Begriff Internet of Things (IoT) bekannt und fördert vor allem den Austausch von sogenannten Zustandsinformationen. Dabei definieren alle erhebbaren Zustandsinformationen den Kontext, in dem ein System arbeitet.

Wenn man also von Kontextsensitivität spricht, geht es um auf Benutzeranforderungen basierende Dinge, die auf Informationen über ihre Umgebung oder dem Kontext von Operationen (autonom) reagieren. Die Dinge nehmen sozusagen die aktuelle Situation des Nutzers sowie den Nutzungskontext wahr und können sich dementsprechend anpassen.

Das älteste Beispiel für solch ein Verhalten und in gewisser Weise der Ursprung der Begrifflichkeit ist das Nutzen von Standortdaten. Eine Applikation nutzt GPS-Daten, um den aktuellen Standort zu lokalisieren, und kann nun bei einer Abfrage (z.B. nächstes Restaurant) die Ergebnisse so einschränken, dass diese mit dem geolokalen Kontext übereinstimmen.

 

Höhere Individualiserung durch Kontextualisierung

Standortgebundene Empfehlungen oder Inhaltsempfehlungen, wie wir sie von Google oder Netflix kennen, sind wir bereits gewohnt. Maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz gepaart mit Big Data erlauben es, Vorlieben und Interessen der Anwender zu ermitteln und auszuwerten. Doch hierbei sind wir noch lange nicht am Ende der technischen Entwicklung.

Präferenzen und Bedürfnisse sind nämlich nicht statisch, sondern von verschiedenen situativen Faktoren (z.B. Stimmungslage oder Umweltbedingungen) abhängig, die sich auf den Nutzer auswirken. Je mehr dieser situativen Faktoren also berücksichtigt werden können, desto klarer werden die Kontextinformationen, wodurch besser auf den Nutzer eingegangen werden kann.

Heutzutage nähert man sich mit Siebenmeilenstiefeln dem hehren unternehmerischen Ziel, perfekt auf den Nutzer zugeschnittene Angebote zu erstellen. Da sowieso nahezu jeder Nutzer durch ein Smartphone bereits lokalisierbar und identifizierbar ist, scheint dank kontextsensitiver Technologien einer höheren Individualisierung und Automatisierung somit nichts mehr im Wege zu stehen.

„Kontextsensitivität hat prägenden Einfluss auf die fachliche und technische Gestaltung mobiler Anwendungen. Die fachliche Interpretation von Kontextparametern ist ein nicht-triviales Problem und erfordert eine sorgfältige Implementierung und gründliches Testen.“ – Dipl.-Inf. Tobias Griebe

Flexibilität durch kontextsensitive Inhaltebereitstellung

Auch in unserem User Experience-Kosmos hat Bill Gates Essay-Titel Content is Kingseine Berechtigung. Wobei es besser passen würde, wenn wir von Usable Content is Kingsprechen würden. Denn es geht vor allem auch darum, wie einfach die Nutzer mit dem Inhalt einer Website oder Anwendung interagieren können.

Die Bereitstellung solcher digitaler Medienprodukte, die durch Kontextinformationen situativ flexibel angepasst werden können, bezeichnet man als kontextsensitive Inhaltebereitstellung. Gute Designs nutzen hierbei schon heute eine klare Inhaltsstruktur mit Kontextinformationen. So gibt es neben der Verortung und Verzeitlichung auch Parameter wie Benutzerrolle (z.B. Verkäufer/Käufer), Prozess (Schnellzugriff auf Hauptfunktionen) und Gerätschaft (z.B. Bildschirmgröße/Eingabemöglichkeiten).

Google Now präsentiert uns bereits den nächsten Schritt dieser kontextsensitiven Entwicklung, indem die App eine eingabefreie Erfahrung durch Situationsbenachrichtigungen bietet. Dies wird u.a. durch eine Daten-Kombination aus Google-Suchanfragen, dem eigenen Kalender und Maps ermöglicht. So kann Now ohne direkte Interaktion den Nutzer auf einen Termin aufmerksam machen, die Verkehrslage checken und zur rechtzeitigen Abreise auffordern.

 

Schöne neue Welt!?

Kontextsensitive Anwendungen und Systeme werden in Zukunft immer mehr Einfluss auf unser Leben bzw. die Art und Weise wie wir leben nehmen. Dabei stehen wir erst am Anfang der sich langsam auftuenden Möglichkeiten und Herausforderungen – Vor allem gesellschaftlicher Natur.

„Wie weitreichend dieser Einfluss sein wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Davon, wie schnell Entwickler bestehende Technologien miteinander verschmelzen können. Davon, wie ernst Unternehmen und Politiker Datenschutz zukünftig nehmen. Und davon, wie wir von Unternehmen zukünftig wahrgenommen werden: als Menschen – oder nur als Kunden.“ – Florian Blaschke

So klingt eine App, die unsere Körperwerte misst und unseren Tagesablauf so koordiniert, dass wir eine vermeintlich perfekte Work-Life-Balance erreichen, auf den ersten Blick gesund und verheißungsvoll. Inwiefern aber ein angeordneter Mittagsschlaf um 14 Uhr in einen betrieblichen Ablauf mit all seinen Unwägbarkeiten passt, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Gleichzeitig werden durch die Unmengen an teils hochsensiblen Daten, die für eine erweiterte kontextsensitive Erfahrung gesammelt und ausgetauscht werden könnten, nicht nur weitere Fragen hinsichtlich des Datenschutzes aufkommen, sondern auch die Notwendigkeit eines neuen Bewusstseins der Nutzer.

Deshalb ist der sensible Umgang mit Big Data und eine ausgewogene Anwendung in der Mensch-Maschinen-Kommunikation unabdingbar. Sowohl Designer, Entwickler, Auftraggeber als auch die Nutzer dürfen sich ihrer Verantwortung im Umgang mit den neuen technologischen Errungenschaften nicht entziehen und müssen eine Kultur des Abnickens oder Verweigerns mit einer Kultur des Hinterfragens ersetzen.

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