Timing in UX – Wie Zeit Interaktion beeinflusst

Veröffentlicht am 18. March 2022

Dennis Wollny

Eine physikalische Größe der Illusion

„Zeit ist relativ.“ Ein Satz, der den meisten gängig ist und der gerne lapidar in den Raum geworfen wird. Dass dieser „Raum“ neben der Zeit laut Einsteins Theorie ebenfalls als Dimension relativ ist, wollen wir hier nicht weiter ausdehnen. Es soll schlicht aufzeigen, dass Zeit ein schwer zu fassendes Konzept ist, welches nicht nur in der Physik, sondern in nahezu allen Disziplinen weiterhin heiß diskutiert wird.

Das Einzige, dass für uns Normalsterbliche bei diesem Thema verständlich zu sein scheint, ist, dass Zeit eine Abfolge von Ereignissen beschreibt, die wir auf eine Zeitachse legen können. Die physikalischen Prinzipien unserer Welt geben dieser Zeitachse dabei eine eindeutige Richtung, die durch einen Zeitpfeil dargestellt wird, der vom Vergangenen in das Zukünftige weist. Diese Richtung auf der Zeitachse ist deshalb eindeutig erfahrbar, da Zustandsveränderungen der Welt irreversibel sind. Platt gesagt: Eine auf den Boden gefallene, zersprungene Vase kann sich nicht wieder zusammensetzen und zurück auf den Tisch springen. In der Physik ist Zeit als Dimension also tatsächlich relativ und hat nur bedingt mit unserer landläufigen Idee von Zeit zu tun. Es gibt weder eine Berechnungsmethode für das Fließen der Zeit noch für das Jetzt.

Sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft also nur eine Illusion, der wir unterliegen? Auf jeden Fall scheint der Mensch ein subjektives Zeiterleben haben. Nahezu jeder kennt die 15 Minuten im Wartezimmer, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, oder den zwei Stunden andauernden Film, der wie im Flug vergeht. Je mehr Reize auf uns einprasseln, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen. Ist unsere Umgebung dagegen reizarm und langweilig, wird auch das subjektive Zeiterleben in die Länge gezogen.

Um unser Empfinden und unsere Wahrnehmung von Zeit also besser zu verstehen, müssen wir zumindest aktuell eher in Richtung Psychologie und Neurowissenschaften blicken. Hierbei haben Wissenschaftler herausgefunden, dass unser Gehirn Sinneseindrücke in fest vorgegebenen Zeitintervallen wahrnimmt. Folgen Ereignisse im Millisekundentakt direkt aufeinander, fasst unser Gehirn diese kurzen Reize in einem größeren Zeitrahmen zusammen, welcher bis zu drei Sekunden dauern kann. Drei Sekunden, die in der modernen Kognitionsforschung dieses in der Physik unberechenbare Jetzt beschreiben.

 

Zeitrahmen in der UX

Dass es auch bei der Mensch-Maschine-Interaktion um Sekunden oder gar Millisekunden geht, beschrieb Ende der 60er Jahre der Verhaltensforscher Robert B. Miller. Mit Verweis auf weitere Koryphäen seiner Zeit taxierte er das Zeitfenster, in dem mehrere Reize als Ganzes wahrgenommen werden können, auf 2,3 bis 3,5 Sekunden. Er zeigte auch auf, dass die Zeitintervalle von den Probanden viel genauer wahrgenommen werden, wenn zwischen Befehlseingabe und Rückmeldung extrem kurze Zeitspannen von 0,6 bis 4 Sekunden liegen. Miller kam deshalb zu der Annahme, dass eine Reaktionsverzögerung von 15 Sekunden oder mehr eine natürliche Interaktion zwischen Mensch und Maschine unmöglich machen. Die Implikationen rund um das Thema Zeit sind demnach schon seit mehr als einem halben Jahrhundert Teil des Diskurses, wenn es um eine funktionale Mensch-Maschine-Interaktion geht.

In der Neuzeit wurde die Wichtigkeit des Faktors Zeit bei der Interaktionsgestaltung vor allem von Jakob Nielsen wieder in den Fokus gerückt. Inspiriert von der revolutionären Dokumentation von Ray und Charles Eames, leitete Nielsen die gleichnamige „Powers of 10“-Zeitskala für die User Experience ab, auf der sich viele Effekte der Wahrnehmungspsychologie wiederfinden. Startend von 0,1 Sekunden bis hin zu 100 Jahren, definierte er so 12 Zeitrahmen für die Gestaltung von Benutzeroberflächen, von denen jeder seine ganz eigenen Usability-Herausforderungen bereithält.

Um hierbei nun nicht zu sehr in das Abstrakte zu verfallen, legen wir im Folgenden unser Hauptaugenmerk auf die Zeitfenster, die sich zeitlich auf unser Jetzt-Empfinden beschränken und die direkte Reaktionszeit bei der Interaktion miteinbeziehen. So stellen 0,1 Sekunden den Intervall dar, in dem Nutzer Feedback brauchen, damit sie das Gefühl haben, dass das System sofort reagiert und sie die absolute Kontrolle darüber haben. Das Feedback ist in diesem Sinne keine einfache Rückmeldung, sondern das direkte Ergebnis resultierend aus dem Input des Nutzers.

Dauert die Rückmeldung länger als 0,1 Sekunden, nehmen Nutzer eine fehlende Direktheit bereits wahr. Der Gedankenfluss wird aber trotzdem noch nicht unterbrochen. Dies geschieht laut Nielsen erst ab > 1 Sekunde. Wenn bis dahin kein wahrnehmbarer Unterschied zu merken ist, entsteht für die Nutzer das Gefühl, dass nun die Maschine arbeitet und die Kontrolle übernimmt. Wird nun sogar das 10-Sekunden-Zeitfenster überschritten, wird der Nutzer nicht nur ungeduldig, sondern wendet seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu. Je mehr Zeit zwischen Input und Output also vergeht, desto mehr löst sich auch die Beziehung zwischen Nutzer und Interface.

 

Zeitverzögerung durch mangelnde Usability

Um das bestmögliche Nutzererlebnis zu schaffen, reicht es aber nicht, dass allein die propagierten Zeitrahmen zu Rate gezogen werden, welche die Grenzen des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeitsspanne berücksichtigen. Die Reaktionszeit korreliert nämlich auch direkt mit der Anzahl an Wahlmöglichkeiten, die den Nutzern präsentiert werden. Zu viel Auswahl kann somit die Entscheidungsfindung hindern, wodurch die Nutzer überfordert werden und der gesamte Prozess verzögert wird. Beim Thema Tempo bzw. Geschwindigkeit geht es deshalb nicht immer um vermeintliche Effizienz − also den Nutzern eine Fülle von Optionen vom Start weg zu präsentieren −, sondern darum, dem Nutzer die Aufgabe so einfach wie möglich zu machen.

Dies ist auch der Grund, warum sich mehrseitige Eingabeformulare oder mehrteilige Bestellprozesse durchgesetzt haben. Wird ein Bestellprozess in mehrere Schritte gegliedert, wird die Aufgabe für die Nutzer überschaubarer und verliert an Komplexität. Die Nutzer können sich auf kleinere Zwischenschritte konzentrieren und fühlen sich gleichzeitig durch jede erfüllte Aufgabe ermutigt, den Prozess fortzusetzen. Zudem bedeutet Tempo auch nicht zwangsläufig je schneller desto besser. Ein einfaches Beispiel hierfür ist das Scrolling. Die Nutzer sind heutzutage darauf geeicht, dass sie gerade auf einem Tablet oder einem Smartphone mit einem Wisch scrollen können. Verwandelt sich der Bildschirm dabei zu einer Rennstrecke, erhalten die Nutzer überhaupt keinen Mehrwert durch die hohe Geschwindigkeit, da sie den Vorgang zunächst abbrechen müssen, um sich erst mal wieder auf der Seite zurechtzufinden.

Gleichzeitig muss die Rückmeldung auf eine Eingabe klar ersichtlich sein. Fügt ein Nutzer beim Online Shopping einen Artikel seinem Einkaufswagen zu, muss ihm auch direkt in seiner Peripherie eine Information zukommen, dass der Vorgang erfolgreich abgeschlossen wurde. Wenn der Artikel einfach nur in das Cart springt, ohne dass eine zusätzliche Animation oder Nachricht in der Nähe des geklickten Buttons den Prozess bestätigt, fühlen sich viele Nutzer gezwungen durch scrollen zum Einkaufswagen-Symbol oder dem Wechsel in den Einkaufswagen erst noch nachzuschauen, ob alles geklappt hat. Geschwindigkeit bedeutet also auch immer den Nutzern jedwedes Feedback zukommen zu lassen, welches für die Zielerreichung und dessen Bestätigung notwendig ist.

 

Das richtige Timing für die Nutzererfahrung

Natürlich kommt es bei den Zeitspannen auch immer auf den Kontext an: Wie, wann, wo und sogar warum eine Anwendung von wem genutzt wird. Die eigene Hardware, die nutzbare Infrastruktur und vor allem die eigene Erwartungshaltung spielen hierbei ebenfalls eine Rolle. Jedoch scheint sich der immer höhere Medienkonsum und das ständige Online-sein ganz allgemein auch auf die Aufmerksamkeitsspanne der Nutzer auszuwirken. So bilden sich Nutzer innerhalb von 0,05 Sekunden eine Meinung über eine Website, die beeinflusst, ob sie tatsächlich darauf verweilen. Und wenn sie dies tun, dauert der durchschnittliche Website Besuch nur noch zwischen 3 bis 4 Minuten. Es gibt also gute Gründe, warum unser Zeitempfinden und eine immer schnellere Entscheidungsfindung Auswirkungen auf UX und Design haben.

Ob Zeit tatsächlich nur eine Illusion ist, wird sich wahrscheinlich nicht so schnell lösen lassen. Ein gutes User Interface muss aber den Faktor Zeit im Sinne der Wahrnehmungstheorie miteinbeziehen, um den Nutzern die wohltuende Illusion der direkten Manipulation zu ermöglichen. Die Nutzer wollen der Technik schließlich nicht ausgeliefert sein, weswegen ihnen das Gefühl gegeben werden muss, die Kontrolle zu haben. Das richtige Timing, die richtige Geschwindigkeit und Einfachheit spielen deshalb in der User Experience eine wichtige Rolle, die auch in Zukunft immer wieder neu gechallenged werden muss, um den Erwartungshaltungen der Nutzer gerecht zu werden und den Grundlagen einer natürlichen Interaktion Rechnung zu tragen.

 

 

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Zeit

https://www.mdr.de/wissen/zeit-fakten100.html

https://www.spektrum.de/magazin/der-raetselhafte-fluss-der-zeit/829474

https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/zeit-und-gehirn/14651

Response Time in man-computer conversational transactions; by Robert Miller; International Business Machines Corporation (IBM), Poughkeepsie, New York

https://www.nngroup.com/articles/powers-of-10-time-scales-in-ux/

https://www.nngroup.com/articles/response-times-3-important-limits/

https://de.wikipedia.org/wiki/Hicksches_Gesetz

https://www.nngroup.com/articles/too-fast-ux/

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