Wie User Experience beim Durchdringen von Komplexität hilft

Veröffentlicht am 02. November 2020

Stefanie Schwanke

Berufsbezeichnungen im Bereich User Experience gibt es einige: User Experience Designer, UX Consultants, UX Researcher und so weiter. Dabei könnte ihre Tätigkeit zuweilen auch als Fragesteller und Lösungsfinder beschrieben werden, denn zum großen Teil ist es ihr Mindset, das sie treibt – basierend auf Empathie, Neugierde und Kreativität. Wenn man sich dem Bereich UX verschrieben hat, will man die Nutzer aus jedem Blickwinkel verstehen und Produkte sowie Services entwickeln, die einen wahrhaftigen Mehrwert schaffen und perfekt auf die Nutzerbedürfnisse abgestimmt sind. Dieser immerwährende Drang nutzerzentriert und lösungsorientiert zu arbeiten ist auch eine Eigenschaft, die bspw. größeren Teams bei der Erfüllung komplexer Projekte häufig gut tun würde – denn Komplexität kann nur durch Verstehen durchbrochen werden.

Wenn aus Verstehen Verwalten wird

Gerade Großprojekte in Konzernen oder umfangreichen Unternehmungen können extrem vielschichtig sein und in ihrer Komplexität undurchdringbar erscheinen. Dies kann dazu führen, dass das „Nicht-Erfassen“ eben jener Komplexität schlussendlich zu einem mangelnden bzw. unbefriedigenden Produkt/Service und somit zu einem Misserfolg führt. Der zunächst noch auf die Entwicklung eines nutzerzentrierten und funktionalen Produktes/Services gelegte Fokus, welcher echten Mehrwert für die User bringen sollte, verschiebt sich durch mangelndes Verständnis nur allzu leicht in Richtung eines schlichten Verwaltens bereits bekannter Teilaspekte des Projektes inklusive zeitlicher und/oder finanzieller Restriktionen.

Die inhärente Komplexität wird durch diese Überforderung der Teams nicht nur nicht aufgelöst, sondern in den meisten Fällen sogar direkt an die Nutzer weitergegeben. Und die Nutzer wollen alles – nur nicht ein zu komplexes und somit unnützes Produkt/Service. Dabei sollte es doch immer das Ziel sein, eine verständliche Strukturierung und einen sinnvollen Aufbau einer Anwendung zu erschaffen, um die Erstellung eines nutzerfreundlichen sowie gebrauchstauglichen Services/Produktes zu gewährleisten.

Das Verstehen und Durchdringen komplexer Systeme ist natürlich kein einfaches Unterfangen und die Gründe für das Scheitern von Projekten sind oftmals mannigfaltiger Natur. Verstehen hat aber immer mit Fragen und Antworten zu tun. So liegt das fehlende Erfassen eines komplexen Systems häufig am ausbleibenden Hinterfragen – nur die richtigen Fragen helfen dabei, die aufkommenden Komplexitäten zu reduzieren.

„ Simplicity is Complexity Resolved. -Constantin Brâncuși

Was überhaupt ist Komplexität?

Komplexität bezeichnet die Gesamtheit aller voneinander abhängigen Merkmale und Elemente eines Systems samt ihrer Verhaltensmöglichkeiten. Die Komplexität eines Systems ist somit durch die Anzahl und Art der Elemente sowie deren Verknüpfungen untereinander bestimmbar. Je umfangreicher Anzahl und Verknüpfungen werden, desto schwieriger wird es, Kausalitäten zu erfassen und exakte Aussagen zu formulieren. Man unterscheidet hierbei zwischen epistemologischer Komplexität, bei der die menschliche Wahrnehmung durch die Vielzahl bestehender Abhängigkeiten überfordert wird, und ontologischer Komplexität, bei der ein Mangel an Abhängigkeiten und Ordnung in der externen Welt ursächlich ist.

Komplexität bedingt sich also und muss immer geordnet werden. In den zuvor beispielhaft erwähnten Großprojekten dient diese Ordnung der Herstellung von Transparenz und dem Transport von Wissen über die gesamtheitlichen Zusammenhänge der Systemelemente an alle Mitwirkenden – egal, ob es sich dabei in einem Projekt um komplexe und sich ständig ändernde Anforderungen oder vermeintlich unberechenbares Verhalten der Nutzer handelt. Bei diesem Strukturieren und elementaren Fokussieren kann User Experience als Disziplin mit ihrem vielschichtigen Methoden-Katalog Komplexität reduzieren und somit zur Lösung beitragen.

Diese Komplexitätsreduktionen kann durch die Anwendung verschiedener Methoden, Prozesse und Formate sowohl im theoretischen als auch im praktischen Bereich erfolgen. Ziel ist es dabei, die vorhandenen Daten & Informationen so vor- und aufzubereiten, dass in deren Extraktion und Neukombination die Erfassung eines zuvor undurchdringlichen Systems ermöglicht wird.

Agile und inkrementelle Produktentwicklung

In der agilen Produktentwicklung bedient man sich bereits seit längerem bestimmter Vorgehensmodelle wie bspw. Scrum oder Kanban, die dabei helfen, Produkte und Services inkrementell zu entwickeln. Es fällt aber immer noch vielen schwer, die Rahmenbedingungen in den Frühphasen der Produktentwicklung, in denen man kaum Nutzer-Kontakt hat, klar abzustecken. Um hierbei von Beginn an den Fokus zu schärfen, stehen im Bereich der UX verschiedene Methoden zur Verfügung.

Grundvoraussetzung zur Erfassung, Gliederung und Strukturierung komplexer Anforderungen bildet die Recherche und stetiges Agile Requirements Engineering. Bei diesem Anforderungsmanagement ist es hilfreich, sich den Herausforderungen zunächst im Vorfeld explorativ zu nähern. So kann man sich bspw. im Rahmen eines PoC (Proof of Concept), also einem zeitlich begrenzten (Vor-)Projekt, exemplarisch der Identifikation von Problemen & Chancen widmen und eine ganzheitliche Betrachtung der Customer Journey durchführen – mit dem Ziel Potentiale und Ansatzpunkte ausfindig zu machen sowie Anforderungen zu sammeln, zu clustern und zu gewichten. Das Ergebnis sind hierbei nicht nur erste Designstudien, sondern auch die konkrete Erfassung des Nutzens und die Definition der Produktvision.

Durch weitere Research-Methoden werden die erfassten Anforderungen geschärft oder es gelangen neue hinzu. Wichtig ist hierbei nicht nur Nutzer und Stakeholder in die Erarbeitung der Anforderungen miteinzubeziehen, sondern die Anforderungen auch zu priorisieren und konstant einzupflegen. Gleichwohl ist der kontinuierliche Austausch mit den Stakeholdern und dem agilen Entwicklungsteam unabdingbar, da dies sowohl die Transparenz für alle am Projekt beteiligten Mitglieder als auch das agile Mindset der Stakeholder und Teams stärkt.

Das Ausformulieren der Nutzeranforderungen in User Stories ist dabei ein weiteres Werkzeug, welches den Projektbeteiligten beim besseren Verstehen der Nutzer und deren Bedürfnissen hilft. Nach der Erstellung erster Gestaltungslösungen auf Wireframe-Basis, kann man sich so iterativ mit jeder User Story und deren Lösung befassen.

Parallel eignet sich die Erstellung einer Informationsarchitektur dafür, eine erfassbare sowie verständliche Ordnung zu entwickeln und an dieser Stelle die erste Hürde einer ontologischen Komplexität zu nehmen.

Die konzeptionell erarbeiteten Lösungsansätze und deren Teilaspekte können nun z.B. durch das Designen von User Flows visualisiert oder gar durch einen Prototyp erlebbar gemacht werden. Schlussendlich bilden alle bearbeiteten Inkremente – von den eher ontologisch ausgerichteten Informationsarchitekturen und Wireframes über granularer gestaltete Designentwürfe – in Summe ein einfach strukturiertes und verständliches Produkt/Service für den Nutzer ab, schärfen das gemeinsame Verständnis von Entwicklungsteams und unterstützen Produktentwickler vom Start weg dabei, effizient und Schritt für Schritt die Projektkomplexität aufzulösen.

Mehr als die Summe seiner Werkzeuge

Die verschiedenen Ansätze, Methoden und Prozesse, welche sich in der User Experience etabliert haben, bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie man Komplexitäten durchdringen und eine klar organisierte Ordnung im Projektkontext erschaffen kann. Es geht aber weniger darum, sich einfach starr der UX-Methodiken zu bedienen – es geht vielmehr um die Bildung und den Bedarf eines agilen, inquisitiven und lösungsorientierten Mindsets. UX Thinking definiert sich schließlich nicht über die verfügbaren Tools, sondern über einen klar nutzerzentrierten und -orientierten Ansatz, der bei jeder Produktentwicklung im Vordergrund stehen sollte.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren