Digitale Umwelt im öffentlichen Raum – Wie virtuelle und reale Welten miteinander verschmelzen

Veröffentlicht am 27. August 2021

Matthias Herkle

Durch das Internet und die omnipräsenten Zugriffsmöglichkeiten auf moderne Technologien hat sich unser Kommunikationsverhalten, die Informationsbeschaffung und -verbreitung sowie unsere Wahrnehmung nachhaltig verändert. Tagtäglich bewegen wir uns in virtuellen Räumen, in denen wir uns mit Bekannten oder auch vollkommen Fremden vernetzen, verabreden und untereinander austauschen. Die digitalen Anwendungen und Services, welche uns hierbei zur Verfügung stehen, sind aber nicht auf diese rein virtuelle Ebene beschränkt, sondern verschmelzen immer häufiger mit dem realen öffentlichen Raum und bereichern diesen durch intelligente Nutzungs- und Interaktionsmöglichkeiten.

"Mit der wachsenden Bedeutung virtueller Kommunikations- und Interaktionsformen sind virtuelle und reale Räume immer stärker verflochten." - Harald Herrmann, Direktor und Professor des BBSR

Dass durch die Verbindung von virtuellen und realen Welten eine vollkommen neue Raumerfahrung geschaffen werden kann, ist vor allem in der Kunst und Kultur zu beobachten, wo dank digitaler Technologien innovative Erlebnisse erschaffen und darstellerische Grenzen in einer Form gesprengt werden können, die vormals noch undenkbar schien. Gerade für Designer, Stadtplaner und Medienschaffende stellt sich demnach die Frage, wie sich ganz allgemein der reale öffentliche Raum in Kombination mit virtuellen Welten in Zukunft gestalten lässt, um den Bedürfnissen und Gegebenheiten einer digitalen Gesellschaft Rechnung zu tragen?

 

Verhalten in virtuellen und öffentlichen Räumen

Wir alle haben dank Smartphones, Laptops oder Touchpads ständig die Möglichkeit auf Informationen zuzugreifen, nach Ablenkung zu suchen oder uns mit entfernten Personen zu unterhalten. Doch gerade wenn es um unser Kommunikationsverhalten geht, lässt sich sehr genau feststellen, dass wir jenes Verhalten an bestimmte Situationen und Orte anpassen. Sitzen wir z.B. im Kino oder Restaurant, ist es logisch, dass unsere digitalen Begleiter offline sind oder zumindest nur wenig genutzt werden und am besten lautlos gestellt sind. In diesen Räumlichkeiten sind wir uns nämlich bewusst, dass eine gewisse Interaktionsbereitschaft bzw. Präsenz erwartet wird und dass es ein gesamtgesellschaftliches Anliegen gibt, diese Etikette zu wahren.

Bewegen wir uns hingegen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, ist es gang und gäbe, sich nahezu ausschließlich mit dem digitalen Endgerät zu beschäftigen, Nachrichten zu lesen, Spiele zu spielen oder auch zu telefonieren. Durch dieses ortsbestimmte Kommunikationsverhalten passen wir den Umgang mit unseren digitalen Begleitern also immer dem Raum an, in dem wir uns befinden. Der Ort bestimmt sozusagen unser Verhalten. Interessant ist hierbei jedoch, dass von den meisten Menschen Stadtplätze genau wie Verkehrsräume wahrgenommen werden. Es gibt also auch Orte, die für uns eine gewisse Ambivalenz ausstrahlen und bei denen wir für uns selbst entscheiden, ob ein bestimmtes Verhalten erwartet wird oder eben nicht.

Deshalb wird sich immer mehr damit beschäftigt, inwiefern die Stadtgestaltung einen Einfluss auf die digitale Gesellschaft hat und vice versa. Denn bislang ging es bei der Stadtgestaltung nicht um das Zulassen von Diversität, wie es die virtuelle Welt vermehrt erlaubt, sondern um eine allgemeingültige und somit für jedermann ausreichende Raumästhetik. Um diese aufzubrechen und eine emotionalere Erlebensperspektive zu schaffen, wird bereits seit Mitte der 90er Jahre unter dem Begriff Mediatektur versucht, ein Zusammenspiel von realem und virtuellem Raum zu nutzen. Dabei geht es grundsätzlich um die mediale Gestaltung im öffentlichen Raum und inwiefern dieser Raum um Perspektiven erweitert werden und wenn möglich auch zur Interaktion einladen kann.

 

Leben in der analog-digitalen Welt

Wenngleich die Idee einer Verschmelzung zwischen virtueller Technologie und Architektur, die hinter der Mediatektur steht, recht klar ist, so ist die Umsetzung noch unscharf und wird von vielen auch als reine Medienfassade verschrien – also das, was uns am New Yorker Timesquare oder Londoner Picadilly Circus zu erschlagen droht. Grelle Neonleuchtschriften und unzählige Bildschirme, die zum Großteil schlicht als animierte Werbeflächen und hin und wieder zum Ausstrahlen wichtiger Nachrichten oder Botschaften herhalten. Ein Gewirr an visueller Überladung, in welchem heutzutage zusätzlich fast schon ein dystopischer Eindruck mitschwingt, da durch moderne Software und Kameras die Werbeeinspielungen sogar automatisiert und zielgruppenspezifisch ausgespielt werden können, indem z.B. die Kleidung oder Accessoires von vorbeilaufenden Passanten gescannt werden.

Die Allgegenwärtigkeit des Digitalen schürt verständlicherweise große Bedenken. Allein schon deshalb, da der technologische Fortschritt mit einer unwirklichen Rasanz und Wucht daherkommt. Heute steckt bereits in einem Neuwagen mehr Rechenleistung als der NASA 1969 beim Flug zum Mond zur Verfügung stand. Einer von vielen irritierenden Vergleiche, die den Philosoph und Informationstheoretiker Luciano Floridi dazu veranlassten, in seinem gleichnamigen Buch ‚die 4. Revolution‘ auszurufen. Er taufte den stetigen globalen Informationsfluss Infosphäre, da er sich wie die Atmosphäre selbst immer weiter um die Erde spannt und dadurch die Grenzen zwischen online und offline irgendwann vollkommen verschwimmen werden.

Wenn diese Vermischung jedoch sowieso unvermeidbar ist, sollten wir uns dann nicht auch im Sinne der Ethik eher damit beschäftigen, wie und wo das Virtuelle das Reale befruchten und tatsächlich positiv erweitern kann, ohne einen bloßen Selbstzweck darzustellen? Einer der sich mit der Entwicklung digital-analoger Lebensräume beschäftigt und dafür auch verschiedene Modelle entwickelt hat, ist Christoph Deeg. Er versucht u.a. Funktionen des Digitalen in analoge Muster für Räumlichkeiten zu übersetzen und neue Perspektiven auf den Raum sowie die in ihm agierenden Personen zu erschaffen.

Um hierbei auch im Gegensatz zur früheren Stadtplanung so viele Menschen wie möglich individuell anzusprechen, nutzt er in seinem Modell der Motivationsportfolios einen Game-Thinking-Ansatz. Hierbei werden die Menschen nicht in Nutzergruppen und darauf basierenden Verhaltensmuster gesteckt, sondern im Sinne der Gamification nach deren Motivationen geforscht. Ähnlich wie in Spielen können so vielzählige Optionen in analoge Räume implementiert werden, welche die Menschen dazu motivieren, sich mit neuen, komplexen Welten und Systemen zu beschäftigen. Die eingesetzten Technologien sollen den analogen Lebensraum dabei aber nicht ersticken, sondern schlicht neue Möglichkeiten aufbieten, wie der Mensch mit seiner Umgebung in Kontakt treten kann.

 

Wo sich Digitales und Reales bereits die Hand geben

Wie die virtuelle Welt sein reales Pendant unterstützen und Menschen auf ganz neue Art und Weise miteinbeziehen sowie Information als Wissen wahrhaftig weitergeben kann, zeigen mehrere Beispiele aus Deutschland und der ganzen Welt:

Digitaler Stadtrundgang

In Gelnhausen wird mit Hilfe des Smartphones kinderleicht eine Stadtführung – gänzlich digital und ohne hierfür einen Guide engagieren zu müssen. Auf mehreren Informationstafeln innerhalb der Altstadt können einfach QR-Codes abfotografiert werden, die neben einer Umgebungskarte sowohl Informationen zu Sehenswürdigkeiten und der Historie als auch gesprochene Audio-Dateien liefern. Besucher können so selbstständigen entscheiden, ob sie mit ihrer Umgebung spontan interagieren wollen und je nach Bedarf auf Wissenswertes zugreifen.

Digital Art Museum

Seit 2018 macht ein japanisches Künstlerkollektiv aus Künstlern, Architekten, Programmierern und Ingenieuren im Digital Art Museum Tokyo das Eintauchen in neue Welten möglich. Die installierten Lichtwunder verändern dabei nicht nur stetig ihre Form und wechseln ihren Platz, sondern werden auch erst durch die Interaktion mit den Besuchern zum Leben erweckt. So erscheinen selbst im En Tea House beim Servieren des Tees auf dessen Oberfläche aufblühende Blumen und aus dem Matcha-Eis wächst schon mal ein virtueller Teebaum.

Digital Signage

In der Stadtbibliothek Stuttgart wird dank dem Digital Signage sowohl die Informationsgewinnung sowie die Orientierung im Gebäude vereinfacht. Mehr als ein Dutzend digitaler Anlaufstellen sorgen dafür, dass die Besucher stets wissen, wo sie sich befinden und wie sie am schnellsten in einen bestimmten Bereich kommen. Zusätzlich verfügen die Touchscreens auch über eine Suchfunktion mitsamt Regalnummernanzeige und aktuelle Veranstaltungen oder Buchvorstellungen können ebenfalls abgespielt werden.

Umwelt digital 4.0

Mit dem Projekt Umwelt digital 4.0 werden von der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW) über Technologien wie Augmented Reality (AR) und Internet of Things (IoT) Umweltinformationen orts- und kontextbezogen bereitgestellt. So sollen z.B. Besucher des Walderlebnispfads im Naturschutzzentrum Rappenwört in Karlsruhe mittels AR nicht nur durch den Wald geführt werden, sondern auch verschiedene Umweltszenarien nachempfinden. Informationen über die aktuellen Bedingungen des Waldbestands als auch zukünftige klimabedingte Folgen können so erlebbar gemacht werden, um einen bewussteren Umgang mit der Umwelt und das Nachhaltigkeitsdenken zu fördern.

Digitales Einkaufen

Das Eindringen digitaler Welten in reale öffentliche Räume zeigt auch im Einzelhandel einen positiven Effekt. Anstatt die Menschen dem Onlinehandel zu überlassen, bauen immer mehr Anbieter aus den USA und Japan auf digitale Technologien, die den Einkauf vor Ort attraktiver machen. So wird u.a. das Bezahlen mit dem Smartphone oder Scans ermöglicht, QR-Codes sowie Touchscreens halten Informationen zu den Produkten bereit und auch AR wird bereits genutzt, um eine neue Shopping Experience zu schaffen.

Die aufgeführten Beispiele zeigen auf, dass die Verbindung digitaler Technologien, die bereits Teil unseres Alltags geworden sind, mit realen öffentlichen Räumen Menschen bei ihren Vorhaben unterstützen sowie unterhalten als auch dazu eingesetzt werden kann, dass sich Menschen vermehrt mit ihrer Umwelt beschäftigen. Gleichzeitig genießen Menschen Erfahrungen, die sie selbst mitbestimmen und in denen sie agieren können. Die Verschmelzung des Analogen mit dem Digitalen sollte deshalb weniger als Gefahr verstanden werden, dass plötzlich alles virtuell wird, sondern neue Anreize und Berührungspunkte mit realen Räumen schaffen. Wenn wir also unsere Rolle als Mitgestalter und Schöpfer der digitalen Welten bewusst und verantwortungsvoll wahrnehmen, können wir vollkommen neue Räume und Wissenshubs erschaffen, die das Beste aus der digitalen Welt mit den Gegebenheiten der realen Welt vereinen.

 

Neue Erlebniswelten für die Nutzer

Die gelungene Wandlung eines realen Raums in Bezug auf eine digitale Informations- und Erlebniswelt durften wir von forwerts beim Relaunch des ICE-Portals für den DB FV mit entwickeln. Da die meisten Menschen auf ihren Zugfahrten Mobilgeräte nutzen, musste das neue Portal in seiner ganzen Komplexität dazu in der Lage sein, Informationen in allen Kontexten darzustellen und abzurufen – sei es zu Unterhaltungszwecken oder für Verbindungsinformationen, zum Bestellen von Getränken oder zur Nutzung des ICE Portal Shops. Der Zug kommuniziert dabei innerhalb des Systems und versorgt den Fahrgast mit aktuellen Informationen, um eine bestmögliche Reise zu gewährleisten.

"Die Nutzer sind die Arbeitgeber – Also sollte man einen verdammt guten Job machen, um sie zufriedenzustellen." - Designteam forwerts

Als User Experience Experten wurden die Nutzer von uns natürlich von Anfang an miteinbezogen und in den Vordergrund gerückt, damit sich jeder Passagier mit der Anwendung wohl, willkommen und motiviert fühlt. Dies bedeutete mögliche Barrieren einzureißen und ein ganzheitliches Design zu schaffen, in dem der Nutzer stets Zugriff sowie einen klaren Überblick über die Funktionen hat und sich im Sinne der Calm Technology auf den verfügbaren Content fokussieren kann – also ohne hierbei durch unnötige Features oder Pop-ups abgelenkt zu werden. Durch den schnellen Zugriff auf Reiseinformationen und Unterhaltungsdienste gelang es uns, einen Zug in einen kontextsensitiven Raum zu transformieren, der den aktuellen und zukünftigen Bahnfahrern ein vollkommen neues Reiseerlebnis bietet und den Bedürfnissen einer digitalen Gesellschaft gerecht wird.

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