Digitale Zukunft — Verantwortung zurückgewinnen im Umgang mit neuen Technologien

Veröffentlicht am 30. July 2021

Nina Hanselmann

Schon seit jeher erfand der Mensch Techniken, Werkzeuge und Maschinen, die ihn beim Umgang mit sich ständig verändernden Umwelt- und Lebensbedingungen unterstützten. Doch die technologischen Entwicklungen der Moderne prasseln in immer kürzer werdenden Abständen auf uns ein. Und sobald sie da sind, werden sie zumeist auch ungefragt und postwendend in unsere Gesellschaft und unseren Alltag integriert, als ob es das Trivialste auf der Welt wäre. Durch diese Schnelllebigkeit des Seins verlieren wir immer mehr den Bezug zu diesen Technologien und somit auch das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Schöpfung.

Die Digitalisierung verändert dabei nicht nur unsere Arbeits- und Lebenswelt, sie verändert auch unser Menschenbild und unser Selbstverständnis. Denn der aufkommende anthropologische Wandel im Hinblick auf ein Leben mit digitalen Produkten hat teils gravierende Auswirkungen auf unsere individuellen und kollektiven Handlungsgewohnheiten. Der Mensch muss sich deshalb fragen, wie sich der zukünftige Umgang mit Technologien und auch der Umgang untereinander gestalten sollte, um neue Strategien entwickeln zu können, welche uns alle wieder in die Verantwortung als Schöpfer und Mitgestalter ziehen.

Digitale Depersonalisierung — Die Technik übernimmt

Technologische Errungenschaften hatten schon immer das Ziel, menschliche Bedürfnisse in immer höherem Maße zu befriedigen und den Menschen beim Überwinden natürlicher Einschränkungen sowie allgemein bei der Selbstentfaltung zu unterstützen. Die Inspiration für neue Techniken fand und findet der Mensch dabei seit jeher in der Natur sowie in sich selbst. So sprach Ernst Knapp bereits 1877 in seinen Grundlinien einer Philosophie der Technik davon, dass der Mensch seit Anbeginn der Zeit Werkzeuge nach seinem eigenen Ebenbild erschuf. Ein Hammer kann so z.B. als Nachbau bzw. Erweiterung von Faust und Unterarm gedeutet werden, mit dem sowohl die Effizienz als auch Gebrauchstauglichkeit gesteigert wurde.

Der Mensch lagert also ihm immanente Fähigkeiten in die Technik aus, indem sie auf ein Werkzeug projiziert werden, und passt sich so seiner Umwelt an. Doch je ausgereifter diese Werkzeuge werden und je mehr körpereigene Eigenschaften dadurch ersetzt werden können, desto eher verliert der Mensch ebenjene Fähigkeiten. Er depersonalisiert sich sozusagen von seinen eigenen Handlungen und gibt die Verantwortung hierfür an eine Maschine ab. Es liegt also in der Aufgabe des Menschen, dass diese körperliche Entfremdung nicht auch zu einer geistigen wird. Sich seiner eigenen Fähigkeiten und Defizite bewusst zu sein ist schließlich unabdingbar, wenn es um den reflektierten Umgang mit Maschinen und deren Nutzen geht.

Digitale Helfer — Tausche Zeit gegen sozialen Kontakt

Die Auslagerung von Eigenschaften in Technik ist somit kein neues Phänomen, jedoch wird im Kontext der Digitalisierung das Zeitfenster immer kleiner, um den Umgang damit zu erlernen und zu hinterfragen. Gewohnheiten ändern und etablieren sich daher im wahrsten Sinne schneller als einem bewusst ist. Wer muss denn heutzutage noch eine Landkarte lesen können, wenn doch jeder ein Navi in der Hosentasche hat? Wer Treff- und Zeitpunkte im voraus organisieren, wenn doch eine stetige Erreichbarkeit gewährleistet ist? Wer über Wissensfragen oder Fremdsprachen diskutieren, wenn Suchmaschinen und Übersetzer nur einen Fingerwisch entfernt sind?

Unsere heutige Technik nimmt uns bereits so vieles ab, dass die Auswirkungen auf unser Verhalten und unser Gedächtnis noch nicht wirklich absehbar sind. Und die Möglichkeiten sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft, wenn man an smarte Geräte denkt, die direkt den Milchbestand im Kühlschrank detektieren und bei einem Mangel gleich automatisch nachbestellen. Es werden somit nicht nur neue Gewohnheiten, sondern auch neue Rituale geschaffen und alte ersetzt. Warum überhaupt noch einkaufen gehen, wenn Lieferungen frei Haus Usus sind? Warum dem Kind ein Schlaflied singen, wenn ein digitaler Helfer das doch viel schöner kann? Warum zum Konzert gehen, wenn ich es auch auf dem heimischen Sofa in Virtual Reality erleben kann?

Diese Suggestivfragen können natürlich im Gesamtkontext der Digitalisierung sowohl positiv als auch negativ gedeutet werden. Positiv vor allem in dem Sinne, dass digitale Services und Produkte uns allen einen wichtigen Faktor zurückgeben — die Zeit. Viele Dinge, die man früher aufwändig und oftmals ins Blaue hinein planen musste, können heute mit wenigen Klicks erledigt werden. Die eigene Verortung oder Verspätungen können direkt übermittelt werden. Die Steuererklärung oder Check-ins sind nicht mehr mit mühseligem Papierkram verbunden. Und gerade in Pandemiezeiten hat sich gezeigt, dass digitale Services sowohl für die Arbeitswelt als auch für das Halten von sozialen Kontakten ein zumindest abmindernder Segen waren.

Doch bei dem Thema soziale Kontakte fallen einem auch viele negative Aspekte in unserem Umgang auf. Rituale, wie das Einkaufen oder der gemeinsame Gang zu Veranstaltungen, gehen vielerorts verloren und damit auch ein wichtiger Teil der sozialen Interaktionen. Dies wird selbst im Kleinen erkennbar, wenn die Frage nach dem Weg nicht mehr von einer anderen Person, sondern durch unseren gewohnten Blick aufs Smartphone beantwortet wird. Unser digitaler Helfer ersetzt somit sowohl unsere eigenen Fähigkeiten als auch vormals unausweichliche Interaktionen mit unseren Mitmenschen und ganz allgemein mit unserer Umgebung. Dabei bleiben gerade soziale Kompetenzen, welche unserer Spezies das Überleben sicherten und die Grundpfeiler von Zivilisationen darstellen, teils auf der Strecke.

Dass wir immer mehr in Gewohnheiten abdriften, die uns eine gewisse Abhängigkeit von unseren digitalen Helfern bescheren, ist dabei genauso unbestreitbar wie, dass wir durch die Abgabe von Verantwortung an die Technik unvorsichtiger, um nicht zu sagen gleichgültiger, mit der Weitergabe unserer Daten umgehen. Die Frage der Verantwortung gegenüber dem eigenen Handeln darf hierbei aber nicht nur in eine Richtung verlaufen. Sowohl Produkte/Services als auch Menschen müssen sich radikal ändern, wenn es um den Ausbruch aus sich etablierenden Gewohnheiten und aus einer fast schon trancehaften Passivität geht. Der Mensch muss allein schon für das Wahren des eigenen Seins aktiv reflektieren, mitgestalten und wenn nötig eingreifen.

Digitales Bewusstsein — Mitdenken, Mitgestalten, Mitregulieren

Für viele wirkt es geradezu so, als ob die analoge Welt natürlicher, haptischer und vor allem menschlicher war, als diese digitale Neuzeit. Dies ist insofern verständlich, da der frühe Hype des Internets in unserer postindustriellen Gesellschaft, die sich nur noch mit dem Sammeln und Verbreiten von Informationen zu beschäftigen scheint, langsam aber sicher verfliegt. Denn, ob gewollt oder nicht, in einer Gesellschaft, in welcher der Verlust der Debattenkultur angeprangert wird, Mobbing auf Social Media zur Norm geworden ist und Algorithmen unsere Werbung, Suchen und Nachrichten lenken, wird der Ruf nach einem Umdenken sowie einem ungefiltertem Auseinandersetzen mit dem, was wir da eigentlich machen, zu Recht immer lauter.

Die Digitalisierung wurde und wird von vielen als eine Art Heilsbringer verschrien. Eine Entität, die uns irgendwie, irgendwann Antworten auf alle Lebensfragen bietet. Doch je mehr unser Alltag von digitalen Devices und Services durchzogen wird, desto mehr Fragen ergeben sich, wie wir mit all dem Neuen umgehen sollen und wollen. Denn schlussendlich sind diese neuen Technologien neutral und selbst wenn wir von Künstlicher Intelligenz sprechen, so sind die Daten, die ihr Denken speisen, von Menschen zugefüttert worden.

„In der Digitalisierung vermuten wir die grenzenlose Chance zur Weltverbesserung, aber verkennen die unsichtbare Dehumanisierung. Es wird Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag — zwischen Mensch und Maschine.“  — Tim Leberecht

Natürlich können wir nicht einfach alle Regeln und Gesetze, denen sich unsere Gesellschaft verschrieben hat, auf dieses digitale Paralleluniversum verschreiben. Allein schon deshalb, da sich der Umgang mit der Digitalisierung nicht überall auf der Welt gleicht und politische sowie kulturelle Grenzen in der digitalen Welt sowieso verschwimmen. Es muss aber möglich sein, zumindest ethische Grundsätze sowie ein erweitertes Bewusstseins im Hinblick auf eine sich rasend schnell transformierende Umwelt zu schaffen, in welcher der Mensch seinen Platz als Schöpfer und Mitgestalter nicht einfach hinnimmt, sondern aktiv einnehmen muss.

Dies betrifft allen voran ebenjene Frage nach ethischen Grundsätzen im Zusammenhang mit digitalen Services. Denn durch das allgegenwärtig verfügbare Wissen findet bereits eine neue Form der Aufklärung statt, in der Themen wie psychische Gesundheit, Nachhaltigkeit oder Gleichberechtigung aus ihrer Tabuisierung herausbrechen konnten. Diese neue Werteorientierung im Hinblick auf Transparenz sowie Empathie und der Sehnsucht nach einem sozialen Kommunikationsverhalten sollte auch im digitalen Umfeld ein Leitbild darstellen, welches vielleicht nicht unbedingt mit Gesetzen, aber gleichwohl mit ein paar Grundregeln gefördert werden muss, um Impulse für die intrinsische Motivation zu setzen.

Gleichzeitig gilt es sowohl für die Nutzer als auch für Unternehmen ihren eigenen Umgang mit den technologischen Neuerungen stets zu hinterfragen und die Verantwortung gegenüber dem eigenen Handeln zurückzugewinnen. Digitale Services dürfen den Menschen dabei weder bevormunden noch in seinem Dasein stören (Stichwort Calm Technology). Deshalb sollten Unternehmen bei der Entwicklung neuer Services und Produkte immer mit der Frage starten: Inwiefern helfen wir den Menschen damit und unterstützen sie bei ihrer individuellen Entwicklung sowie Zielerreichung? Wogegen Nutzer neben der Frage nach dem Mehrwert auch immer die Vertrauensfrage stellen sollten: Was für ein Unternehmen steht überhaupt hinter diesem Produkt und löst es tatsächlich eines meiner Probleme? Und wenn ja; löst es mein Problem rein aus Bequemlichkeit oder weil ich wirklich einen Mehrwert daraus ziehe?

Jeder entscheidet natürlich selbst, wie er mit digitalen Services und Produkten umgeht und inwieweit er sie in sein Leben einbindet. Es gilt schließlich immer im Neuen zunächst den Fortschritt und die Möglichkeitsräume zu erkennen. Jedoch geht es auch um ein größeres Verständnis in einem digitalen und gleichzeitig humanen Kontext. Es geht nämlich in Zukunft nicht nur um das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, sondern weiterhin auch um korrelierende Prozesse zwischen Mensch und Umwelt und vor allem auch zwischen Mensch und Mensch. Der Mensch muss daher auch bei digitalen Services und Produkten immer im Vordergrund stehen und sich selbst als wichtigsten Teil des Systems verstehen. Dies bedeutet auch stetig zu reflektieren, welchen Stellenwert man der Technik in seinem Leben gibt und welche Notwendigkeit sie überhaupt hat.

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